Was bedeutet „ganzheitliche Gesundheit“ aus Sicht des Ayurveda – und was unterscheidet diesen Ansatz vielleicht von anderen Gesundheitskonzepten?
RITA LONGIN: Im Ayurveda verstehen wir den Menschen als Einheit von Körper, Geist und Seele – und all diese Bereiche beeinflussen sich gegenseitig. Ein Ungleichgewicht in einem Bereich wirkt sich immer auch auf die anderen aus. Wenn ich etwa Schmerzen habe, verändert sich auch mein Denken, meine Stimmung und meine Energie.
Gesundheit wird im Ayurveda immer individuell gesehen. Das Ziel ist es, im eigenen „Svastha“ zu leben – ein Begriff aus dem Sanskrit, der so viel bedeutet wie „bei sich selbst stehen“ oder „sich selbst nah sein“. Genau das beschreibt Gesundheit im ayurvedischen Sinn: Wir sind dann gesund, wenn wir ganz in unserer Mitte sind.
Im Ayurveda spielt die persönliche Konstitution – das sogenannte Dosha – eine zentrale Rolle. Können Sie kurz erklären, was hinter den Begriffen Vata, Pitta und Kapha steckt?
RITA LONGIN: Im Ayurveda gehen wir davon aus, dass jeder Mensch eine bestimmte Zusammensetzung aus den drei Doshas (Bioenergien) Vata, Pitta und Kapha mitbringt. Vata steht für Bewegung, Pitta für Stoffwechsel und Kapha für Struktur und Stabilität.
Diese Grundkonstitution, mit der wir geboren werden, bleibt das ganze Leben über bestehen. Sie zeigt sich z. B. in unserem Körperbau, unseren Vorlieben und auch in unserem Charakter. Ein Mensch mit viel Vata ist oft schlank, kreativ, sensibel und schnell zu begeistern – hat aber auch ein größeres Bedürfnis nach Wärme und Ruhe. Pitta-Typen sind meist mittelgroß, strukturiert, analytisch und sehr zielorientiert – sie neigen aber auch zu Hitzeempfindlichkeit und Gereiztheit. Kapha-Menschen sind kräftiger gebaut, lieben Stabilität, sind geduldig und ausdauernd – brauchen aber etwas länger, um in Bewegung zu kommen.
Viele Menschen sind eine Mischung aus zwei Doshas, und auch diese Kombinationen können sich ganz unterschiedlich zeigen. Genau das macht den ayurvedischen Zugang so spannend – weil es keine Schubladen gibt, sondern immer um das individuelle Gesamtbild geht.
Sie sind Ayurveda-Praktikerin und Ernährungswissenschafterin. Wie ergänzen sich diese beiden Perspektiven, wenn es um individuelle Gesundheit geht?
RITA LONGIN: Gerade im Bereich Ernährung ergänzen sich Ayurveda und Ernährungswissenschaft für mich ideal. In der klassischen Ernährungslehre gibt es allgemeingültige Empfehlungen wie die Ernährungspyramide – sie gilt im Prinzip für alle Menschen. Im Vergleich dazu wird im Ayurveda die Ernährung auf die einzelne Person abgestimmt: auf die Konstitution, ein mögliches Dosha-Ungleichgewicht und die aktuelle Verdauungskraft. Laut klassischer Ernährungswissenschaft ist Rohkost für alle zu empfehlen, im Ayurveda wird z.B. die Menge individuell an den Menschen angepasst um z.B. Blähungen oder übermäßiges Kältegefühl zu verhindern. Andere Typen brauchen mehr stoffwechselanregende Nahrungsmittel und wieder andere mehr stärkehaltige Lebensmittel und Fett. So gibt es von den Lebensmitteleigenschaften her unterschiedliche Empfehlungen, womit eine wirklich individuelle Ernährung entsteht, die genau das unterstützt, was die jeweilige Person gerade braucht. In meiner Praxis zeigt sich, wie stimmig und wirksam dieser Zugang ist.
Welche Rolle spielt die Ernährung im Ayurveda? Gibt es Grundprinzipien, die für alle Menschen hilfreich sein können – unabhängig vom individuellen Dosha-Typ?
RITA LONGIN: Ernährung ist im Ayurveda eine der drei zentralen Säulen
- Ernährung
- Schlaf
- richtiger Umgang mit der eigenen Energie
der Gesundheit – sie spielt also eine sehr große Rolle. Wir essen mehrmals täglich, und jede Mahlzeit ist eine Chance, unsere Gesundheit zu stärken. Durch gute Ernährung versorgen wir Körper und Geist mit neuer Energie – unsere Gesundheit hängt also direkt von der Qualität des Essens ab.
Ein wichtiges Konzept im Ayurveda ist das „Agni“, unser inneres Verdauungsfeuer. Es beschreibt die Fähigkeit unseres Körpers, Nahrung gut zu verdauen und aufzunehmen. Dieses Agni möchten wir stärken – egal, welcher Dosha-Typ wir sind. Dafür gibt es ein paar allgemeine Empfehlungen, die allen guttun:
- Zwischen den Mahlzeiten mehrere Stunden Pause lassen – kein Dauer-Snacken.
- Das Mittagessen sollte die Hauptmahlzeit sein. Frühstück und Abendessen lieber leicht halten.
- Nur so viel essen, bis man angenehm satt ist. Überessen belastet die Verdauung.
Viele Menschen fühlen sich oft ausgelaugt oder überfordert. Welche ayurvedischen Impulse oder Rituale helfen besonders dabei, wieder in die eigene Mitte zu finden?
RITA LONGIN: Wir leben heute in einer sehr schnellen, fordernden Welt – das überreizt unser Nervensystem. Im Ayurveda sehen wir in solchen Zuständen oft ein Übermaß an Vata und Pitta, also an Bewegung und Energie. Das erschöpft viele Menschen auf Dauer.
Wichtig ist daher, sich regelmäßig zu erden und aufzutanken. Der Ayurveda empfiehlt zum Beispiel wärmende Öl-Massagen, um das Nervensystem zu beruhigen. Eine wöchentliche Selbstmassage mit warmem Öl kann schon sehr wohltuend sein – oder man gönnt sich professionelle Massagen.
Auch über den Atem lässt sich viel bewirken. Atemübungen helfen, wieder zur Ruhe zu kommen – und sie lassen sich fast überall unauffällig durchführen, etwa fünf tiefe Atemzüge in einer kurzen Pause. Solche kleinen Rituale können helfen, im Alltag wieder bei sich selbst anzukommen.
Ayurveda betont das bewusste Wahrnehmen der eigenen Körpersignale. Wie kann man diesen Zugang (wieder) lernen – gerade in einer Welt, die so laut und schnell geworden ist?
RITA LONGIN: Der Schlüssel ist Achtsamkeit. Immer wieder innehalten und sich fragen: „Wie geht es mir gerade? Was brauche ich jetzt?“ – Das klingt simpel, ist aber unglaublich wirksam. Dieses bewusste Reinspüren lässt sich üben und mit der Zeit wird es zur natürlichen Gewohnheit. Es ist eine wertvolle Fähigkeit für ein ganzheitlich gesundes Leben – gerade in einer Welt, die oft von außen bestimmt ist